Sätze wie „Jede:r macht mal Fehler!“ und „Niemand ist perfekt!“ kennt und sagt jede:r – vor allem wenn es um die eigenen Fehltritte oder die der Liebsten geht. Dass diese Sätze ziemlich viel Wahrheit beinhalten, ist uns eigentlich auch klar – trotzdem scheint es so, als würde das die digitale Öffentlichkeit heutzutage immer öfter vergessen. Gerade bei Berühmtheiten, Politiker:innen oder Unternehmen scheint die öffentliche Fehlertoleranz stetig abzunehmen: Kleine Fehler sowie lang zurückliegende Fehltritte, treten in diesem Kontext schnell eine Lawine der Empörung los. Diese rollt dann durch das Netz, stößt Boykottaufrufe an, zwingt Politiker:innen in die Knie oder reißt ganze Karrieren auf ihrem Weg mit sich.
Im Internet hat die Tendenz, aus einem Fehler gleich einen Boykottaufruf zu machen, bereits einen eigenen Namen bekommen: Cancel Culture. Cancel Culture hat vor allem in den letzten Jahren stark zugenommen und läuft meist nach einem wiederkehrenden Schema ab. Eine Person oder ein Unternehmen sagt oder tut etwas Polarisierendes, das meist gegen vorherrschende soziale oder kulturelle Werte verstößt. Die Folge ist ein öffentlicher Backlash, der sich vor allem in den sozialen Netzwerken niederschlägt und durch die dort prävalente Empörungsökonomie befeuert wird. Der Empörung folgt ein Boykottaufruf, durch den man den oder die Fehlermacher:in an den digitalen Pranger stellt und versucht, ihn oder sie für das Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen. Zahlen muss der oder die Gecancelte für das Vergehen meist in einer der wichtigsten (neuen) Währungen: der Reputation. Der Reputationsverlust führt dann zu Folgeschäden. Unternehmen verzeichnen z.B. Umsatzeinbrüche und bei Einzelpersonen kann ein Reputationsschaden schnell zum Verlust der Karriere und im schlimmsten Fall auch des sozialen Umfeldes führen.
Cancel Culture klingt erstmal gar nicht so problematisch? Der oder die Einzelne bekommt mehr Mitspracherecht, Minderheiten können lauter auf Missstände hinweisen und Akteur:innen, die sich andauernd falsch verhalten, werden zur Rechenschaft gezogen. Ja, Cancel Culture hat gute Seiten und kann im besten Fall zu einer positiven Verhaltensänderung führen – allerdings nur in einzelnen, individuellen Fällen. Denn so positiv das Ganze auf den ersten Blick scheint, so viel gibt es auch zu kritisieren. So gibt Cancel Culture nicht nur marginalisierten Gruppen eine Stimme, sie arbeitet gleichzeitig gegen eine breitangelegte Meinungspluralität. Hinzu kommt, dass die digitalen Boykottaufrufe einerseits immer stärker eskalieren und zu verbalen Ausschreitungen, Diffamierungen und Beleidigungen gegenüber Personen oder Unternehmen führen, die in einer solchen Härte schlicht nicht akzeptabel sind. Andererseits werden sie auch von politischen Gruppierungen instrumentalisiert, um Stellvertreterkriege zu führen, bei dem die eigentlichen Ziele der Boykottaufrufe massiv und ungewollt ins Kreuzfeuer geraten. Letztlich sind die Auslöser für einen solchen Boykott nicht immer jüngste Ereignisse, sondern auch lang zurückliegende Vergehen. Das Problem dabei ist, dass gesellschaftliche Normen nicht statisch sind. Sie entwickeln sich weiter – so sind Verhaltensweisen, die vor 50 Jahren von der breiten Masse als legitim betrachtet wurden, heute längst nicht mehr okay. Trotzdem werden zurückliegende Handlungen im Kontext aktueller Wertevorstellungen bewertet. Das muss nicht immer falsch sein, trotzdem sollte diese Praktik fallabhängig kritisch betrachtet und hinterfragt werden.
Neben all diesen Kritikpunkten, eröffnet Cancel Culture auch neue Einfallstore für gezielte Reputationsangriffe. Denn einen (künstlichen) Shitstorm zu produzieren, wird durch die zunehmende Cancel Culture noch einfacher, während der Empörungssturm selbst immer schwerwiegendere Folgen nach sich zieht. Das Ziel bei einem fingierten Shitstorm kann unterschiedlich sein: Interessengruppen versuchen eine eigene Agenda durchzusetzen, politische Gruppierungen versuchen ihre Gegner:innen zu diskreditieren oder Unternehmen versuchen sich schlicht einen Marktvorteil zu verschaffen. Um einen solchen Angriff durchzuführen, suchen Angreifer:innen gezielt nach Fehltritten von dem anzugreifenden Unternehmen oder seinen Mitarbeiter:innen und machen diese publik. Finden sie keine Schwachstellen, greifen sie einfach auf eine simple Methode zurück: Sie erfinden angebliche Vorfälle, erstellen falschen Content und verbreiten ihn im Netz. Dort provozieren sie mit fingierten Likes und Kommentaren einen Empörungssturm und versuchen durch besonders polarisierende Inhalte, User:innen aus unterschiedlichen Lagern zum Mitmachen zu treiben.
Ist der Shitstorm erstmal losgetreten, ist er kaum bis gar nicht wieder einzufangen. Auch das Richtigstellen von falschen Informationen hat oft nur einen kleinen Effekt. Denn durch das koordinierte Online-Shaming wird neben der Reputation auch die Glaubwürdigkeit des angegriffenen Akteurs oder der Akteurin zerstört. Hinzu kommt, dass 1.) viele User:innen solche Fälle nicht noch einmal nach recherchieren und im Worst Case gar nicht erst mit den Richtigstellungen in Berührung kommen und, dass 2.) hier der sog. Negativitätseffekt zu tragen kommt. Dieser bewirkt, dass wir uns eher an negative Informationen erinnern als an positive – im Falle eines gefakten Cancel Culture-Angriffs also eher an die Anschuldigungen als an die Richtigstellung.
Für Unternehmen bringt das Phänomen Cancel Culture also vor allem zwei Entwicklungen mit sich: eine Veränderung des Reputationsverständnisses sowie neue Rahmenbedingungen für das Krisenmanagement.
Werte und Purpose als neue Reputationstreiber
Unternehmensreputation konstituiert sich durch verschiedene Faktoren. Früher waren das vor allem funktionale Aspekte wie z.B. die Produkt- oder Servicequalität oder die Finanzkraft eines Unternehmens. Heute erleben wir eine Veränderung hin zu einer Betonung der sozialen Reputation. Potenzielle Kund:innen und Mitarbeiter:innen stellen sich immer öfter Fragen wie: Wie behandelt das Unternehmen seine Mitarbeiter:innen? Achtet der Betrieb auf Umweltfreundlichkeit? Wie nachhaltig wird gewirtschaftet? Und vor allem: Stimmen die Werte und der Purpose des Unternehmens mit meinen eigenen überein?
Wird insbesondere die letzte Frage mit „Ja“ beantwortet, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich bei einer Person ein positives Bild gegenüber dem Unternehmen entwickelt. Unternehmen müssen also ihr eigenes Handeln und ihre eigene Kommunikation viel stärker auf dieses neue Verständnis hin auslegen. Zusätzlich sollte auch das Verhalten der Mitarbeiter:innen und Geschäftspartner:innen vor diesem Hintergrund geprüft bzw. diese geschult werden. Denn Reputation überträgt sich schnell: Macht ein Unternehmen mit einem oder einer Lieferant:in Geschäfte, der oder die durch kritisches Verhalten auffällt, wird dieses schnell auf das Unternehmen selbst projiziert. Es kommt also darauf an, Awareness für Reputation und ihre Fallstricke – wie z.B. Cancel Culture – in der gesamten Wertschöpfungskette herzustellen.
Neue Rahmenbedingungen für das digitale Krisenmanagement
Cancel Culture verschärft die Gefahrenlage im Internet. Die Angst, dass z.B. jede E-Mail an Kund:innen, jedes Mitarbeiter:innengespräch oder Aussage der Geschäftsleitung unmittelbar im Netz landen und dort einen kulturellen Boykott auslösen können, macht schnell handlungsunfähig. Wer dem entgegenwirken will, muss in die digitale Krisenprävention investieren. Sie hilft zum einen, digitale Risiken wie Reputationsangriffe möglichst zu minimieren und darauf vorzubereiten, in das Zentrum eines digitalen Boykottaufrufs zu geraten. Das hilft im Ernstfall schnell und vor allem adäquat zu reagieren, um schlimmere Folgeschäden zu vermeiden.
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